Ruf nach der Bürgerversicherung ist eine Bankrotterklärung – Gesundheitspolitik auf dem Prüfstand

0
168

Berlin (ots) –

Ihren großen gesundheitspolitischen Traum hatte die SPD auf dem Altar der Ampel-Regierungsbildung noch bereitwillig geopfert. Mit einer Einheitskrankenversicherung für alle wollte sie die FDP nicht vergraulen. Nun haben die Genossen das Thema aus der Versenkung geholt: „Wir halten am Ziel einer umfassenden Bürgerversicherung fest“, heißt es im neuen gesundheitspolitischen „Leitbild“ der SPD-Bundestagsfraktion. Das sei „alter Wein in neuen Schläuchen“, genau wie der von SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz vorgeschlagene „Deutschlandpakt“, sagt der Experte für Gesundheitspolitik Frank Rudolph im Interview.

Laut dem SPD-Positionspapier soll die Finanzierung einer hochwertigen medizinischen und pflegerischen Versorgung in Deutschland nach den Grundsätzen von „Solidarität und Gerechtigkeit“ organisiert werden. Dagegen kann man doch nichts sagen?

Solidarität und Gerechtigkeit sind Grundpfeiler unserer freien und humanistischen Gesellschaft. Und sie gehören zum Fundament unserer sozialen Marktwirtschaft. Problematisch wird es, wenn solche hehren Begriffe missbraucht werden, um ideologisch motivierte Ziele zu verbrämen. Dann verkommen sie zu leeren Schlagworten. Das liegt auf derselben Linie wie so manche Parole von Olaf Scholz. Anfangs sorgten sie für Aufmerksamkeit. Aber schon bald wurden sie als hohl entlarvt – von „Bazooka“ über „Wumms“ und „Doppelwumms“ bis „Zeitenwende“. Auch das neueste Stück aus dem Ampel-Tollhaus dürfte weitgehend verpuffen. Der vorgeschlagene „Deutschland-Pakt“ ist ein Offenbarungseid. Die „Fortschrittskoalition“ in Berlin hat das Staatsschiff auf Grund gesetzt und die Länder und die Kommunen sollen es nun gemeinsam mit der Opposition wieder flottmachen, damit die notwendige Modernisierung des Landes wenigstens noch halbwegs funktionieren kann. In einer derart vertrackten Situation bietet unsere Demokratie einen klaren Ausweg: Rücktritt der Regierung und Neuwahlen.

Sind Sie jetzt nicht etwas weit abgeschweift? Um das Gesundheitswesen ging es in der „Deutschland-Pakt“-Rede des Kanzlers doch gar nicht.

Was die Sache ja durchaus noch ein Stück schlimmer macht. Unser Gesundheitswesen steht vor enormen Herausforderungen. Das Krankenhaussterben, die Schließungen von Arztpraxen – besonders in ländlichen Gebieten -, die Versorgungsengpässe bei wichtigen Arzneimitteln, die wachsenden Milliardendefizite der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Unterm Strich also die reale Gefahr, dass sich die medizinische Versorgung der Bevölkerung spürbar verschlechtert – doch all das ist in der Haushaltsrede des Kanzlers nicht einmal am Rande vorgekommen.

Dabei wäre gerade für die bislang in weiten Teilen missglückte Krankenhausreform von SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach tatsächlich ein echter Deutschlandpakt erforderlich. Denn ohne die Länder, die für die Krankenhausplanung zuständig sind, wird sich nicht viel bewegen lassen. Doch was hat die SPD-Bundestagsfraktion in dieser Lage zu bieten? Gerede von „gerechter und solidarischer Lastenverteilung“. Das ersetzt keine Reformen mit betriebswirtschaftlichem Sachverstand, die dringend notwendig sind, damit die GKV finanzierbar bleibt und die Lohnnebenkosten sowie die Steuerlast nicht ins Unermessliche steigen. Stattdessen kommen die Genossen nun wieder mit dem Uralt-Hut Bürgerversicherung. Das ist eine Bankrotterklärung.

Für die Legislaturperiode der Ampel hatte sich das Thema doch eigentlich erledigt. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die SPD nun erneut darauf pocht?

Den Sozialdemokraten war nach der Konstellation, die sich aus der Bundestagswahl 2021 ergab, völlig klar, dass Olaf Scholz nur dann Bundeskanzler werden könnte, wenn die FDP mitmacht. Klar war aber auch, dass die Bürgerversicherung für die Liberalen als Partei der wirtschafts-, finanz- und gesellschaftspolitischen Vernunft ein No-Go ist – übrigens ebenso wie für CDU und CSU. Deshalb ließ die SPD das Thema unter den Koalitionstisch fallen. Vergessen hat sie es aber nicht. Inzwischen richten sich die Blicke auf die Halbzeitbilanz der Ampel. Dass die dürftig ausfällt, schreien die Umfragespatzen von den Dächern. Koalitionen halten nicht ewig. Offenkundig denken SPD-Strategen darüber nach, womit sich demnächst beim Wahlvolk punkten ließe, um vielleicht doch noch wie Phönix aus der Asche als stärkste Partei abzuschneiden – und dann vielleicht eine Koalition bilden zu können, mit der sich die Bürgerversicherung durchbringen lässt. So kommt es wohl, dass nun gesundheitspolitisch alter Wein in neue Schläuche gegossen und einmal mehr mit großen Worten wie Solidarität und Gerechtigkeit aufgetischt wird.

Ein neuer Bundestag wird erst im Herbst 2025 gewählt, warum also jetzt schon?

Da wäre ich nicht so sicher. Der Kitt, der Rot-Grün-Gelb zusammenhält, wird immer brüchiger. Laut ARD-Deutschland-Trend waren Ende August 79 Prozent der Befragten weniger oder gar nicht zufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung unter Olaf Scholz; nur noch 19 Prozent waren zufrieden. Da ist es verständlich, wenn so mancher darüber nachdenkt, wie sich im Fall eines Falles ein Bundestagswahlkampf führen ließe. Und im Gesundheitswesen wird die Lage in den nächsten Monaten ganz sicher nicht besser werden. Die Krankenhauspleiten werden zunehmen, wie auch der Bundesgesundheitsminister einräumt. Die Auseinandersetzungen um Lauterbachs unstimmige Krankenhausreform gehen weiter. Der GKV fliegen mal wieder steigende Kosten um die Ohren. Der Pflegenotstand nimmt zu. Kein Wunder, dass schon mal nach einem Sündenbock Ausschau gehalten wird. Die SPD hat ihn mal wieder in der Marktwirtschaft ausgemacht. Zitat: „Eine starke Orientierung an Marktkräften, verbunden mit Gewinnmaximierung und dem Abschöpfen von Renditen führt nicht zu einer besseren Versorgung von Patientinnen und Patienten und pflegebedürftigen Menschen.“ Da wird der Markt erneut zum Feindbild hochstilisiert.

Ohne Marktwirtschaft geht es Ihrer Meinung nach im Gesundheitswesen nicht?

Jedenfalls nicht besser oder effektiver. Schauen wir uns die Lage in Staaten an, wo man versucht hat, die Betriebswirtschaft und privates Wirtschaften aus dem Gesundheitsbereich zu verbannen. Der steuerfinanzierte staatliche Gesundheitsdienst Großbritanniens, der National Health Service NHS, befindet sich in einem erschreckend desolaten Zustand. Monatelange Wartezeiten für ganz normale Operationen. Riesenkrach im Parlament wegen der Zustände im Gesundheitswesen. Und immer mehr gefrustete Patienten, die sich gezwungen sehen, private Zusatzversicherungen abzuschließen, damit sie in halbwegs absehbarer Zeit einen Facharzt-Termin bekommen. Bestmögliche Gesundheitsversorgung entwickelt sich nun mal nicht durch staatlich verordneten Einheitsbrei. Auch im Gesundheitswesen braucht es Wettbewerb, um medizinischen Fortschritt und die bestmögliche Behandlung zu erreichen.

Dennoch scheinen Forderung nach einer Einheitskrankenversicherung bei Teilen der Bevölkerung einen Nerv zu treffen. Wollen Sie bestreiten, dass viele Menschen meinen, Privatversicherte seien auf Kosten der Allgemeinheit privilegiert?

Dass es Menschen gibt, die das mangels besseren Wissens glauben – oder auch, weil es ihnen von Linkspopulisten eingeredet wird – bestreite ich nicht. Die Wirklichkeit ist jedoch weit komplexer. Dass Gesundheitsminister Karl Lauterbach das duale System von gesetzlichen und privaten Krankenkassen ein Dorn im Auge ist, ist längst bekannt. Doch es ist ein Trugschluss, dass sich die zunehmenden finanziellen Probleme der GKV, die Jahr für Jahr durch Milliardensummen von den Steuerzahlenden über Wasser gehalten wird, durch eine Verstaatlichung der PKV in Luft auflösen würden. Aber möglicherweise müssen die Befürworter des dualen Systems von GKV und PKV tatsächlich besser erklären, warum dieses System erhalten bleiben und gegen ideologisch motivierte Angriffe verteidigt werden muss, wenn wir weiter ein hohes Niveau der medizinischen Versorgung für alle Menschen in unserem Land gewährleisten wollen.

Dann nennen Sie bitte mal ein, zwei Argumente für das duale System.

Wir sollten zunächst das Gesamtbild in den Blick nehmen: Von den rund 84 Millionen Menschen in Deutschland waren im Juli 2023 rund 74 Millionen bei den verschiedenen Kassen der GKV versichert, also rund 90 Prozent der Bevölkerung. Die Anzahl derjenigen GKV-Mitglieder, die für ihre gesetzliche Krankenversicherung tatsächlich Beiträge zahlen, lag aber nur bei etwas mehr 58 Millionen. Die der kostenfrei versicherten Familienmitglieder lag bei mehr als 16 Millionen. Hinzu kommen Menschen, die aus verschiedenen Gründen beitragsfrei versichert sind. Es ist also kein Wunder, dass die Beitragseinnahmen der GKV nicht die Kosten für die medizinische Versorgung aller ihrer Mitglieder decken.

Milliardenzuschüsse der Steuerzahlenden sind Jahr für Jahr erforderlich, um diese Deckungslücke auszugleichen. Dazu tragen übrigens auch – und zwar in nicht unerheblichem Maße – alle Privatversicherten mit ihren Steuerzahlungen bei. Etwas weniger als 9 Millionen Menschen sind in Deutschland Mitglied einer privaten Krankenversicherung. Davon sind etwa die Hälfte Beamte, die als sogenannte Beihilfeberechtigte aufgrund ihres Status gesetzlich garantierte Zuschüsse zur PKV erhalten. Daran lässt sich aus verfassungsrechtlichen Gründen kaum rütteln. Bleiben also rund 4,5 Millionen „normale“ Privatversicherte übrig. Und die sollen nun samt den in etlichen Jahren mit ihren Beitragsanteilen gebildeten Altersrückständen der PKV quasi enteignet und in eine gesetzliche Kasse gezwungen werden? Was für ein Irrweg!

Aber würden den Kassen – oder der halt noch zu schaffenden Bürgerversicherung – dadurch nicht etliche Milliarden zufließen?

Diese Milliarden wären innerhalb weniger Jahre verpufft. Und danach wären die Probleme noch größer als heute. Denn wenn alle, die jetzt noch in der PKV versichert sind, Mitglieder einer ach so gerechten und solidarischen Bürgerversicherung wären, wäre das Verhältnis von Kosten und Einnahmen noch schiefer. Dann hätten nämlich plötzlich auch die nicht berufstätigen Familienangehörigen der einst privat versicherten Mitglieder Anspruch auf kostenfreie Krankenversicherung, wie in der GKV üblich. Zudem hätten auf einen Schlag auch einige Millionen mehr Menschen Anspruch auf Reha-Maßnahmen und Kuren. Denn anders als in der GKV muss in der PKV jeder einzelne Versicherte Beiträge zahlen – und Reha und Kuren werden dort in der Regel nicht bezahlt. Allein das zeigt schon, dass die Forderung nach einer Einheitsversicherung für alle auf einer Milchmädchenrechnung beruht, die mit ideologischen Schlagworten garniert wurde. Hinzu kommt, dass die wertvollen Beiträge, die seit Jahren von der PKV für die Modernisierung unseres Gesundheitswesens geleistet werden, dann wegfallen würden – und zwar mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Qualität der medizinischen Versorgung.

Die PKV als Träger des medizinischen Fortschritts?

Ja, natürlich. Warum hat Klaus Reinhardt, der Präsident der Bundesärztekammer, wohl neulich auf der Jahrestagung des PKV-Verbands erklärt, der Teil der Bevölkerung, „der sich privat versichern kann, sollte eher größer sein als kleiner“? Die PKV trägt maßgeblich dazu bei, dass Innovationen deutlich rascher in der medizinischen Versorgung ankommen, als wenn die Leistungserbringer im Gesundheitswesen allein auf die Finanzierung durch die GKV angewiesen wären. Für viele Facharztpraxen und Kliniken wäre es ohne Einnahmen aus der PKV teils kaum möglich, auf dem neuesten Stand der Technik zu bleiben. Dafür reichen die Zahlungen der gesetzlichen Kassen allein oft nicht aus. Für größere Investitionen werden in vielen Fällen Mehrumsätze aus der Behandlung von privatversicherten Patienten benötigt. Diese Mehrumsätze entstehen, weil es für Privatpatienten nicht die GKV-typischen Budgetbeschränkungen gibt und weil von der PKV oft höhere Honorare gezahlt werden. Ohne diese zusätzlichen Einnahmen würde es länger dauern, ehe die Ausstattung mit Medizintechnik erneuert werden kann. Medizintechnik, die natürlich auch den gesetzlich versicherten Patienten zugute kommt. Wer die Axt an dieses System legt, schadet der medizinischen Versorgung in Deutschland. Egal, mit welchen ideologischen Phrasen man das auch verschleiert mag.

Frank Rudolph (Jahrgang 1960) ist mit der Kalkulation und Abrechnung medizinischer Leistungen seit vielen Jahren vertraut. Als Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V. (BVVG) kennt er die Folgen gesundheitspolitischer Weichenstellungen in Bund und Ländern für die medizinische Versorgung der Bevölkerung – insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von Kosten und Nutzen. Der in Essen geborene Betriebswirt ist Mitglied der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU. Von 2007 bis 2013 war Rudolph Mitglied der Bundeskommission Gesundheit. Seit 2007 ist er 1. stellvertretender Vorsitzender des Gesundheitspolitischen Arbeitskreises der CDU NRW.

Pressekontakt:
Bundesverband Verrechnungsstellen Gesundheit e.V.
Invalidenstraße 92, 10115 Berlin
+49 30-319008-400
[email protected]
www.bvvg-ev.de
Original-Content von: BVVG Bundesverband Verrechnungsstellen Gesundheit e.V., übermittelt durch news aktuell
Quelle: ots