Putins Krieg gegen die Ukraine: Sorge um deutsches Versöhnungsprojekt / Behindertenarbeit in der Stadt Pskow ist seit Jahrzehnten ein Leuchtturmprojekt

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Düsseldorf/Pskow (ots) –

Seit mehr als 30 Jahren setzt sich die Initiative Pskow in der Evangelischen Kirche im Rheinland für Versöhnung zwischen Deutschen und Russen ein. Mit dem Heilpädagogischen Zentrum im russischen Pskow, in der Nähe von St. Petersburg, hat sie ein Leuchtturmprojekt für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung in Russland entwickelt. Im Interview spricht Oberkirchenrat i. R. Klaus Eberl, Mitbegründer der Initiative und Ehrenbürger der Stadt Pskow, über Auswirkungen, die der russische Angriff auf die Ukraine auf die Arbeit haben könnte.

Herr Eberl, was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie vergangene Woche von dem russischen Angriff auf die Ukraine gehört haben?

Klaus Eberl: Ich habe mir nicht vorstellen können, dass das passiert. Ich habe an die Menschen in der Ukraine gedacht und zugleich an unsere Freunde im russischen Pskow, die uns über die vielen Jahre der Zusammenarbeit im Heilpädagogischen Zentrum sehr ans Herz gewachsen sind. Mich treibt die Frage um, wie es dort weitergeht.

Wie schätzen Sie die Folgen der westlichen Sanktionen für die Arbeit in Pskow ein?

Eberl: Darüber kann ich im Moment nur Vermutungen anstellen. Es ist möglich, dass wir kein Geld mehr transferieren können. Größere Sorge habe ich davor, wie Russland politisch auf die Sanktionen reagieren wird. Der russische Gouverneur hat zwar unseren Partnern in Pskow signalisiert, dass er die Arbeit weiter unterstützen will, aber ob wir in Deutschland auch weiter daran beteiligt sein werden, ist eine ganz andere Frage.

Wird es schwerer, ein Visum für die Einreise nach Russland zu bekommen?

Eberl: Ja, zum Beispiel. Für dieses Jahr hatten wir drei Reisen nach Pskow geplant. Zum einen wollte ich im Juni dorthin fliegen, um an einem Festival teilzunehmen, bei dem internationale Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung ihre Werke zeigen. Bei den anderen beiden Reisen sollte es um Fortbildungen für Mitarbeitende und den Bau einer neuen Einrichtung auf dem Gelände der Werkstatt gehen, die für schwerstmehrfachbehinderte Erwachsene bestimmt ist. Dort sollen sie künftig eine spezielle Betreuung und Förderung erhalten. Die Rohbauarbeiten haben bereits begonnen. Erste Gelder wurden übermittelt, der Rest ist abrufbereit.

Wo sehen Sie weitere Schwierigkeiten?

Eberl: Bei allem, was unser Handeln von Deutschland aus betrifft. Wir haben bisher gut mit der Regionalverwaltung und der Stadt zusammengearbeitet. Wenn es irgendwo klemmte, hat man uns geholfen. Ob sich dieser Faden wieder aufnehmen lässt, weiß ich nicht.

Sie haben die Arbeit in Pskow 1991 unter dem Stichwort „Versöhnung mit der Sowjetunion“ begonnen. Damals haben Sie diese Region ausgewählt, weil sie besonders stark während des Zweiten Weltkriegs unter der deutschen Besatzung gelitten hat. Mehr als 360.000 Menschen sind zwischen 1941 und 1944 in der Gegend von Pskow von deutschen Soldaten getötet worden. Wie beschreiben Sie den Weg der Versöhnung in den vergangenen drei Jahrzehnten?

Eberl: Wir haben schon in den Anfängen ein starkes Zeichen der Versöhnung erlebt. Nach unserem ersten Besuch in Pskow besuchte uns eine russische Delegation im niederrheinischen Wassenberg, wo ich seinerzeit als Pfarrer tätig war. Bei einem ökumenischen Gottesdienst stand plötzlich ein Mann auf und ging zum Mikrofon. Er nestelte an seiner Jackentasche, zog ein Foto heraus und sagte: ‚Ich war deutscher Soldat in Pskow und habe mein ganzes Leben darauf gewartet, dass ich um Vergebung bitten kann.‘ In der Kirche war es mucksmäuschenstill. Dann stand der russisch-orthodoxe Priester Pavel Adelheim auf, ging auf den Mann zu und segnete ihn.

Welche Zeichen der Versöhnung sind Ihnen noch in Erinnerung geblieben?

Eberl: Wir waren von Anfang an überzeugt, dass zur Versöhnung auch Taten gehören. Die bedrückende Situation von Menschen mit einer Behinderung, die wir auf unserer Reise erlebt hatten, bot sich dafür besonders an. Am Tag nach dem Gottesdienst haben wir im Presbyterium entschieden, dass die Kirchengemeinde die Trägerschaft für das Heilpädagogische Zentrum übernimmt. Mit einer Fertighausfirma haben wir in kurzer Zeit in Pskow eine Förderschule für geistig- und schwerstmehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche gebaut. Wir haben Mitarbeitende gesucht und mit ihnen ein neues Konzept für die Arbeit mit behinderten Menschen entwickelt. Regelmäßig sind wir auch zum Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, dem 22. Juni, nach Pskow gereist, um bei der Kranzniederlegung am Grab des unbekannten Soldaten dabei zu sein. Unser Engagement sprach sich herum. Die Menschen in Pskow haben uns schnell als Freunde angesehen. Sie merken, dass auf die furchtbare Kriegsgeschichte etwas Neues, Positives gefolgt ist.

Das Heilpädagogische Zentrum ist zum Leuchtturmprojekt für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung in Russland geworden.

Eberl: Wir haben mit dieser Initiative tatsächlich etwas geschafft, was wir nie zu hoffen gewagt hätten. Fachleute aus ganz Russland besuchen mittlerweile das Heilpädagogische Zentrum, um sich ein Bild von der Arbeit zu machen. Wir durften ein Curriculum entwickeln, das russlandweit zur Basis wurde für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit geistigen Behinderungen. Zum Symbol unserer Arbeit ist ein in der Pskower Werkstatt gefertigter Engel geworden. Er hat einen kleinen und einen großen Flügel, hat also selbst eine Behinderung. Die Russische Raumfahrtagentur hat ihn in die Raumstation ISS gebracht. Ein Foto aus der Raumkapsel zeigt im Vordergrund den Engel, im Hintergrund die Erde. Für mich versinnbildlicht dieses Foto noch einmal, was da gewachsen ist. Und dass Grenzen oder Nationalismen auf dem blauen Planeten keine Rolle spielen dürfen. Aber das alles wird nun infrage gestellt durch diesen völlig sinnlosen und menschenverachtenden Angriffskrieg.

Die Initiative Pskow hat eine „Stellungnahme zum Überfall russischer Truppen auf die Ukraine“ veröffentlicht. Was sind die Kernaussagen?

Eberl: Die Initiative Pskow erlebt heute die schlimmsten Tage seit Beginn ihrer Arbeit. Dreißig Jahre lang haben die Partner in Russland und Deutschland an der Versöhnung der Völker gearbeitet. Dass nun Russland seinerseits ein Land überfällt, ist ein verstörender Schock. In unserer Stellungnahme verurteilen wir den Einmarsch in die Ukraine aufs Schärfste. Dieser Überfall ist ein verantwortungsloser Bruch des Völkerrechts. Für uns ist der Krieg gegen die Ukraine ein Krieg Putins, nicht ein Krieg der russischen Bevölkerung. Wir zeigen uns solidarisch mit den Opfern und Leidtragenden, egal auf welcher Seite sie sich befinden. Und wir machen deutlich, dass wir nach wie vor zu unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in der Stadt und Region Pskow stehen. Gemeinsam wollen wir weiter den Weg der Versöhnung gehen.

Wie könnte dieser Weg in Zukunft aussehen?

Eberl: Auf deutscher Seite steht fest: Wir wollen auf jeden Fall weiterarbeiten. Wir wollen weiter in Pskow die Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen verbessern und niemand braucht Sorge zu haben, dass wir uns zurückziehen. Auch die Mitarbeitenden in Pskow, die Eltern und die Kinder wollen mit uns weiterarbeiten, da bin ich sicher. Aber wir wissen nicht – und das müssen wir nun abwarten -, wie die Rahmenbedingungen in Zukunft sein werden. Ob Russland unsere Arbeit noch erlauben wird und ob sie durch die Sanktionen des Westens weiterhin möglich sein wird.

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Eberl: Ich bin Ehrenbürger der Stadt Pskow und mich schmerzt die Situation sehr. Ich liebe diese Stadt und die Menschen, mit denen wir gemeinsam so viel erreicht haben. Die Arbeit in Pskow wird weiter Bestand haben. Daran habe ich keinen Zweifel und das tröstet mich auch. In den vergangenen 30 Jahren haben viele Menschen davon profitiert. Das bleibt, unabhängig davon, ob wir aus Deutschland zukünftig daran beteiligt sein werden. Als Initiative haben wir die Arbeit in Pskow immer als gesegnet empfunden. Wir durften erleben, wie sich in ausweglosen Situationen plötzlich Lösungen aufgetan haben. Darauf hoffe ich auch jetzt.

(Interview: Simone Becker)

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Quelle: ots