Prokrastination: Wenn Aufschieben das eigene Leben ausbremst / Tipps für den Alltag, um aus dem Teufelskreis auszubrechen

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München (ots) –

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, weiß der Volksmund. Im echten Leben sind etwa 20% der Deutschen in allen Altersstufen von „krankhafter Aufschieberitis“ betroffen. Zwar ist „Prokrastination“ keine offizielle psychische Krankheit, doch kann das Liegenlassen von Aufgaben das berufliche, familiäre oder schulische Leben empfindlich beeinträchtigen. Daher gilt es in schweren Fällen als krankhaft und baut mit der Zeit oft Symptome einer psychischen Störung auf. Mindestens 70% der Studierenden, die sich in ihrem neuen Lebensabschnitt nun selbst strukturieren müssen, sind von Prokrastination betroffen. Dadurch verlängern sich Studienzeiten oder das Studium wird nicht beendet. Wenn schulische Leistungen, Ausbildung oder Beruf deutlich leiden, ist es geboten, sich wegen der Arbeitsstörung professionelle Hilfe zu suchen. Das Ausmaß des beruflichen Aufschiebens findet sich mit großer Regelmäßigkeit auch im privaten Bereich wieder.

Der Mensch lebt mit Gewohnheiten. Wer als Kind erfährt, dass Versprechen von Erwachsenen ihm gegenüber nicht eingelöst werden, oder wer stets übermäßig kritisiert wird, dessen Selbstbewusstsein steht häufig auf keinem allzu festen Fundament. So kann es aufgrund mangelnder Selbstwirksamkeit im Laufe des Lebens immer mehr zu Prokrastination kommen. Das Gehirn wird quasi auf Ausweichen programmiert. Wenn nicht aktiv gegengesteuert wird, kann das Leben zunehmend chaotisch werden. Es betrifft dann nicht nur einen selbst, sondern greift Raum in der Familie, im Freundeskreis, in der Schule, Ausbildung oder im Berufsleben. Es hinterlässt jede Menge Enttäuschungen. Oft können Betroffene trotz ihrer Unzufriedenheit oder Scham nicht mehr selbst aus diesem Teufelskreis ausbrechen. Die Gewohnheit des Aufschiebens von großen und kleinen Aufgaben hat das eigene Leben fest im Griff. In der Folge können sich andere psychische Störungen entwickeln. Manchmal versuchen Betroffene, ihren Frust und andere negative Gefühle durch Alkohol oder andere Substanzen zu betäuben, zu beruhigen oder sich durch übermäßigen Medienkonsum abzulenken.

Ein Beispiel: Der 37jährige Martin arbeitet als Lehrer für Französisch und Deutsch. Seit Jahren quält er sich mit der Korrektur von schriftlichen Arbeiten herum. Die zunehmende Anzahl von Korrekturen, die bei ihm liegen bleibt, führt zu Problemen mit Eltern, der Schulleitung und vor allem mit sich selbst. Martin hat keine Freizeit mehr, weil er sich ständig Zeit freihält, um die Arbeiten anzufangen oder abzuschließen. Sein Maß an Frustration und Verzweiflung steigt stetig mit den wachsenden Bergen anstehender Korrekturen. *

Formen von Prokrastination

Die Wissenschaft unterscheidet zwischen „State procrastination“ und „Trait procrastination“. Ersteres sind Zielkonflikte von Motivationen, zweiteres ist ein Persönlichkeitsmerkmal. Der Betroffene ist demnach grundsätzlich weniger gewissenhaft. Auch gibt es Charaktere, die Druck brauchen, um Leistung zu erbringen, oder überhaupt Aufgaben ins Zeitmanagement aufzunehmen und Fristen einzuhalten.

Prokrastination kann auch Teil von Überforderung sein, sodass eine Arbeitsblockade entsteht und die Aufgabenerfüllung noch zusätzlich erschwert wird.

Umstritten ist wissenschaftlich jedoch, ob es aktives, bewusstes Aufschieben sowie passives Verschieben gibt. Zum Beispiel schätzt Fred Rist, Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Münster, ein, dass aktive Prokrastination auch dazu beitragen könne, sinnvolle Prioritäten zu setzen. Dagegen sagt Margarita Engbertig, Psychologin und Prokrastinationsforscherin an der Universität Münster, dass Menschen immer einen Nachteil durch ihr prokrastinierendes Verhalten erleiden. Die Forschung geht allgemein davon aus, dass Menschen mit zu hohem Prokrastinationsverhalten stets an das denken, was sie nicht schaffen, und daher ihren Alltag leidvoll erleben.

Ein hoher Leistungsanspruch führt zu sich überlagernden Aufgaben und schlussendlich Blockaden. Jedoch seien Perfektionismus oder Prüfungsangst nicht die alleinigen Ursachen von Prokrastination.

Oft führt Prokrastination dazu, dass alles am Abend erledigt werden muss („Eveningness“), was zu Problemen in der Partnerschaft oder der Familie führt. Allerdings kann das Eingebundensein auch dabei helfen, Aufgaben eher zu erledigen und Konflikte zu vermeiden.

Folgen des übermäßigen Aufschiebens von Aufgaben

Eine repräsentative Erhebung von Wissenschaftlern der Universitätsmedizin Mainz im Rahmen des Forschungsschwerpunkts Medienkonvergenz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zeigt auf, dass Menschen, die Tätigkeiten häufig aufschieben, seltener in Partnerschaften leben, häufiger arbeitslos sind und über ein geringes Einkommen verfügen. Betroffen sind vor allem männliche Schüler und Studierende. Die Studie bestätigt, dass ausgeprägtes Aufschiebeverhalten mit Stress, Depression, Angst, Einsamkeit und Erschöpfung einhergeht.

Prokrastination kann auch als Teil einer diagnostizierbaren psychischen Störung, zum Beispiel bei Depression, Angststörung oder Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) auftreten. In solchen Fällen ist die Behandlung der primären psychischen Erkrankung die Voraussetzung für die Behebung der Arbeitsstörung. Chronisches Aufschieben beeinträchtigt allerdings auch das psychische Wohlbefinden und kann selbst zur Ursache für andere psychische Belastungen und Symptome werden.

Ursachen von Prokrastination

Neben Defiziten in der Kindheit kann der Faktor, nie wirklich „Lernen gelernt zu haben“, zum Aufschieben führen. Für Struktur und ein Umfeld, das Konzentration fördert, zu sorgen, ist notwendig. Ebenfalls hilft es, bei Teilabschnitten oder abgeschlossenen Leistungen sich konsequent zu belohnen. Das Gehirn erinnert sich dann an die guten Gefühle und unterstützt Bemühungen, dieses Wohlfühlen wiederholt zu erreichen.

Häufig führen kurzfristig bearbeitbare Aufgaben zu schnellem Erfolg und langfristige Ziele werden als nicht so attraktiv eingestuft. Daher stellen Betroffene langfristige Arbeiten zurück.

Eine Studie der Ruhr-Universität Bochum zeigte, dass bei Betroffenen oft das Gefühlszentrum im Gehirn größer ist und die Handlungssteuerung damit nicht ausreichend verknüpft sei. Die störenden, negativen Emotionen könnten also Handlungen blockieren oder ausweichendes Verhalten auslösen. Diese neurologische Voraussetzung ist jedoch durch aktives Gegensteuern und Aufbauen von neuen Gewohnheiten, somit positiven Erfahrungen, veränderbar. Auch das Trainieren von „wie werde ich mich fühlen, wenn ich es fertig gestellt habe“ hilft langfristig, sich selbst zu motivieren.

Therapie von Prokrastination

Es gibt vielfältige Möglichkeiten, Strategien zur Alltagsbewältigung zu erlernen. Die Ursachen aus Kindheit oder Jugend anzugehen, ist im Rahmen einer Psychotherapie wichtig. Dies kann das Aufarbeiten von Traumata oder eine Verhaltenstherapie, das Bewältigen einer Angststörung oder das Erfassen von negativen Familienstrukturen sein. Dafür wird vom jeweiligen Therapeuten mit dem Betroffenen ein Behandlungsplan entworfen und gemeinsam durchgeführt.

Der Psychologe Job verweist darauf, dass selbst als Erwachsener der Umschwung aus der negativen Gedankenspirale gelingen kann. Hilfreiche praktische Mittel sind die Führung eines Tagebuchs von erreichten Erfolgen oder das Abstreichen auf einer To-Do-Liste mit anschließender Belohnung für sich selbst. Auch das Zusammenschließen mit Menschen, die ebenfalls an der Überwindung prokrastinierender Verhaltensweisen arbeiten, bietet Halt.

Job nennt drei Strategien zum aktiven Angehen von Prokrastinieren: Situations-, Motivations- und Emotionskontrolle. Bei der Situationskontrolle überprüft der Betroffene, was er im eigenen Umfeld selbst beeinflussen kann. Lenkt das Smartphone oft ab, dann könnte es zeitweise ausgeschaltet werden. Fehlt zum Beispiel zuhause zum Lernen die Konzentration, ist das Ausweichen auf die Bibliothek hilfreich. Motivationskontrolle bedeutet, die eigene Motivation durch eine Belohnung zu steigern. Entweder hilft es, größere Vorhaben in kleinere Aufgaben einzuteilen. Oder man gönnt sich nach jedem geschafften Abschnitt eine kleine Pause. Auch hilft es, sich selbst in die eigene Zukunft zu versetzen: Man macht sich bewusst, wofür man diese Aufgabe erledigt, und wie man von der Erfüllung dieser Aufgabe profitieren wird. Bei der Emotionskontrolle versetzt man sich gezielt zum Beispiel mit Musik oder schönen Plänen für die Belohnung in bessere Stimmung.

* Das Fallbeispiel wurde aus: Anna Höcker, Margartia Engberding. Fred Rist, „Heute fange ich wirklich an! Prokrastination und Aufschieben überwinden – ein Ratgeber“, Göttingen: hogrefe, 2. unveränderte Auflage 2021, entnommen.

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Quelle: ots